Zwei alte Schuhe

Zwei alte Schuhe

Die Besitzer des alten Bergbauernhofes waren schon vor langer
 Zeit in die Stadt gezogen und hatten alles, was nicht mehr
 brauchbar schien, hinter sich gelassen und vieles davon achtlos
 in den angrenzenden Schuppen geworfen. Und da fanden sich
 zwischen Milchkannen, Blumentöpfen, Werkzeug und altem
 Gewand auch ein paar Schuhe. Sie hatten längst ausgedient,
 das einst schwarze Leder, aus dem sie gefertigt wurden, war
 mittlerweile grau und brüchig geworden, die dicke Gummisohle
 hatte ihr Profil verloren und ließ an manchen löchrigen Stellen
 Nässe durch. Und auch an die Schuhbänder erinnerten nur mehr
 die Löcher, durch die sie gefädelt worden waren.
Nicht einmal kam es vor, dass der Almhirte, dem diese Schuhe
 einst gehörten, unter Lebensgefahr einen steilen Abhang hinauf
 oder hinunterklettern mußte, um ein kleines Lamm zu retten und
 nur dank seiner Schuhe, die ihm Halt und Schutz gaben, war nie
 etwas passiert. Sie hatten ihn sicher durch alle Jahreszeiten und
 Wetterlagen geführt, und das über viele Jahre.
Und wieder einmal war es Frühling geworden, und die
 wärmende Sonne blinzelte durch die Ritzen des immer morscher
 werdenden Schuppens. Ihre Strahlen trafen auch das Paar
 Schuhe und erweckten sie sozusagen wieder zum Leben. Da
 beschlossen die beiden, sich auf den Weg zu machen. Die
 verfallene Tür war nur angelehnt und so konnten sie ungehindert
 nach draußen schlüpfen.
Wohin es gehen sollte, war zwar nicht klar, aber sie wollten auf
keinen Fall, zusammen mit dem Hausrat und all den anderen
 Dingen, langsam aber sicher verrotten.
Die ersten Schritte waren mühsam nach so langer Zeit des
 Stillstehens, und nur zögerlich kamen die beiden Schuhe in
 Schwung. Doch von Schritt zu Schritt verbesserte sich ihre
 Form. Nach einem langen Marsch über Stock und Stein und
 saftige Wiesen standen sie plötzlich vor einer sprudelnden
 Quelle, die den beiden Schuhen sehr willkommen kam, denn ein
 wenig Reinigung konnte nicht schaden.
Also wagte sich erst einmal der linke Schuh ein wenig vor ins
 kühle Naß, und noch bevor es ihm der rechte gleichtun konnte,
 wurde der linke von der Strömung erfaßt und fortgerissen. Um
 nicht allein zurückbleiben zu müssen, nahm der rechte nun
 seinen ganzen Mut zusammen und stürzte sich in die Fluten.
 Doch bereits nach wenigen Metern wich die Angst dem
 Vergnügen, und die beiden genossen ihre feuchte Talfahrt, die
 sie ins Ungewisse führte.


-2-

Es war ein aufregendes Abenteuer, und die zwei hatten große
 Mühe, endlich ins Trockene zu gelangen, ehe der Gebirgsbach
 in einen See mündete, der für sie wohl im wahrsten Sinne des
 Wortes den Untergang bedeutet hätte.
Zum Glück kamen die beiden Schuhe an einer ruhigeren Stelle
 des Wassers gleichzeitig zum Stillstand, und sie nützten die
 Gelegenheit, um sich mit letzter Kraft mit einem Sprung auf die
 Böschung zu retten. In der wärmenden Sonne schliefen sie
 erschöpft ein und trockneten vor sich hin.
Es musste wohl viel Zeit vergangen sein, denn, als sie sich auf
 dem Anhänger eines Traktors wiederfanden, waren sie bereits
 durch und durch trocken. Was war geschehen? Ein Bauer hatte
 alles, was die Menschen nicht mehr brauchen können und in der
 Natur entsorgen, eingesammelt und aufgeladen. Auf dem Weg
 zur Mülldeponie machte er allerdings kurz Halt auf seinem Hof;
 zum Glück für das Paar Schuhe, denn die Bäuerin warf einen
 kurzen Blick auf den Müllberg, nahm ein paar noch nützliche
 Dinge vom Traktor und entdeckte dabei die beiden Schuhe, die
 ja mittlerweile als solche völlig unbrauchbar geworden waren.
Was hatte sie also mit ihnen vor?
Erst einmal wurden sie fest gebürstet und von den Rückständen
 ihres feuchten Abenteuers befreit. Das tat schon recht gut, doch
 es kam noch besser. Schwarze Schuhcreme, auf einen weichen
 Lappen aufgetragen, drang wohltuend in das strapazierte Leder
 ein, das vor Freude sogar ein wenig zu glänzen begann. Doch
 das höchste der Gefühle war der wohlriechende Sprühregen aus
 der Dose, der die gesamte Oberfläche der beiden Schuhe
 überzog und ihrer desolaten Form immerhin ein adrettes
 Aussehen verlieh.
Doch, was sollte das alles, kein Fuß konnte mehr mit diesen
 Schuhen auch nur einen einzigen Schritt tun.
Und tatsächlich sollten sie einen völlig anderen Zweck erfüllen
 als ihren ursprünglichen. Die Bäuerin holte zwei kleine,
 prachtvolle, bunte Blumenstöcke, die sie in die Schuhe stellte,
 und deren Blüten und Blätter sich sanft über das alte Leder
 legten. Und damit alle Menschen, die das Haus betraten, sehen
 konnten, dass man alte, ausgediente Schuhe auch noch anders
 verwenden kann, bekamen sie einen Platz, der wohl keinem
 Auge entgehen konnte, nämlich die beiden Nischen links
 und rechts von der Eingangstür des alten Bauernhauses.