Mitzi

Mitzi

Das Badezimmerfenster stand offen, und Mitzi lag zum Trocknen auf
 dem Fensterbrett. Ein plötzlicher Windstoß schlug das Fenster zu
 und wirbelte Mitzi mehrmals durch die Lüfte, ehe sie unsanft nach einem
 Sturz vom fünften Stock des Hauses am Boden aufschlug. Doch Mitzi,
 die Zahnbürste, hatte Glück, sie landete auf einer Rasenfläche. Der
 Schock war groß, vom dunklen Blau ihres Griffes war nur mehr ein
 hellblauer Schimmer zu sehen, und ihre weißen Borsten zitterten.
Nur langsam kehrte wieder die ursprüngliche Farbe zurück, und noch
 ehe sich Mitzi aufrichten konnte, schnappte unsanft ein kleiner Hund
 nach ihr und begann mit ihr zu spielen. Erst ließ er sie fallen, dann
 nahm er sie wieder zwischen seine spitzen Zähne und rannte
 schließlich ziellos mit ihr durch die Gegend. Doch bald verlor der Hund
 das Interesse an ihr, vielleicht lag es auch daran, dass die Zahnbürste
 ein wenig nach Zahnpasta schmeckte, und so ließ er sie einfach am
Straßenrand liegen.
Autos rasten vorbei, Radfahrer verfehlten sie nur knapp, und die
 nächste Gefahr war bereits im Anrollen. Ein Straßenkehrer mit seinem
 Handwagen näherte sich Mitzi, und sie hatte keine Chance mehr zu
 fliehen. Mit einem großen Besen wurde die Zahnbürste mit all dem
 anderen Müll auf eine Schaufel gekehrt und in den Wagen gekippt. Da
 fand sich Mitzi nun zwischen Dosen, Blättern, Zigarettenresten, Papier
 und Plastikflaschen wieder. Ein trostloser Zustand angesichts des
Zieles dieser Fuhr, nämlich die Mülldeponie am Rande der Stadt.
Und Mitzi war doch fast neu und konnte noch einen guten Zweck
 erfüllen. Also nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, buddelte sich aus
 dem Müllberg, benützte den Besen als Stütze und sprang in einem
 unbeobachteten Moment vom Wagen. Das Fallen hatte sie ja
 mittlerweile gelernt, der Aufprall auf den Asphalt war allerdings
 wesentlich unangenehmer als der auf den Rasen. Benommen landete
 sie auf dem Gehsteig und schlüpfte in die nächstgelegene
 Hauseinfahrt, wo sie erst einmal ihre Borsten zurechtschüttelte und ein
 wenig verweilt Sie versteckte sich hinter dem geöffneten Haustor, als
 eine Gruppe von kleinen Kindern, begleitet von zwei Betreuerinnen,
 das Haus verließ. Mitzi war im Haus eines Kindergartens gelandet,
 wollte aber das Haus nicht wieder verlassen und überließ es dem
 Zufall, welche Aufgabe denn eine bereits gebrauchte Zahnbürste in
 einem Kindergarten haben könnte.

-2-

Sie ging auf Entdeckungsreise, durchquerte erst einmal den
 Umkleideraum, danach das Bastelzimmer, ehe sie ins Bad kam; ein
 Raum, der ihr ja bereits vertraut war. Sie hatte es nicht weit in ein
 Waschbecken, denn für die kleinen Kinder waren die Muscheln so tief
 befestigt, dass Mitzi mit einem Sprung in einem Waschbecken landen
 konnte. Sie legte sich erschöpft unter den Wasserhahn, der sofort so
 lange kühles, klares Wasser über ihre zerzausten Borsten fließen ließ,
 bis sie wieder in Weiß erstrahlten. Sauber und erfrischt sprang Mitzi
 zum Trocknen auf ein nahe gelegenes Handtuch, wo sie die Nacht
 verbrachte.
Bereits am frühen Morgen, noch ehe wieder Leben in die Räume
 einkehrte, hielt die Zahnbürste nach einer zukünftigen Aufgabe
 Ausschau. Sie wurde gleich im Bastelzimmer fündig. Auf einem
 Tischchen in Höhe der Kinderaugen, erblickte sie Malpapier, eine
 Farbpalette und auch einen Becher, in dem sich Pinsel und Buntstifte
 befanden. Mit einem Sprung erklomm sie den Rand des Bechers und
 mischte sich unter die Malbehelfe. Als am Vormittag die Kleinen den
 Tisch stürmten, um Buchstaben und Bilder zu malen, entdeckten sie
 Mitzi zwischen den Pinseln und Buntstiften, und jede wollte die erste
 sein, die Mitzi in den Farbtopf tauchen und zur Abwechslung einmal
das Klecksen mit der Zahnbürste probieren durfte. Es klappte
 erstaunlich gut, und alle waren zufrieden.