Zehn Büroklammern

Zehn Büroklammern

Zwischen abgebrochenen Bleistiften, ausgetrockneten
 Kugelschreibern und einem zerbröselten Radiergummi lagen
 zehn bunte Büroklammern unter einer dicken Staubschicht auf
 einem Schreibtisch; zurückgelassen von Menschen, die vor
 langem hier gearbeitet hatten. Das Büro, in dem die Klammern
 einst ihren Dienst versahen, war längst nicht mehr benutzbar,
 und auch das Haus, in dem die Büroräume untergebracht waren,
 wies bereits grobe Mängel auf und war mittlerweile
 unbewohnbar. Durch die seit Jahren nicht mehr geputzten
 Fenster drang nur spärlich Sonnenlicht ein, und es war kaum
 festzustellen, welche Jahreszeit gerade war.
Trotzdem erwachten die Büroklammern wieder langsam zum
 Leben, denn sie hatten genügend Spannkraft, um noch einmal
 gute Arbeit leisten zu können. Also beschlossen sie, nach einer
 neuen Aufgabe Ausschau zu halten. Sie rappelten sich auf,
 schüttelten den Staub von ihren bunten Körpern, klammerten
 sich fest aneinander und rutschten am Tischbein entlang zu
 Boden. Dort kamen sie als kleines, buntes Häufchen zu liegen
 und mussten sich erst einmal auseinanderklauben.
 Da standen sie nun in Reih und Glied und suchten einen Weg
 ins Freie. Fenster und Türen waren fest verschlossen, also blieb
 nur der Weg unter der Tür durch. Zum Glück war das Holz schon
 so verzogen, dass der Spalt zwischen Türe und Boden groß
 genug war, um durchzurutschen. So zwängte sich eine Klammer
 nach der anderen durch den Türspalt. Dieses Spiel wiederholte
 sich mehrere Male, bis auch das letzte Hindernis, nämlich das
 Eingangstor, überwunden war. Im Freien angekommen, wartete
 eine völlig neue Welt auf die Büroklammern. Es war laut und
 alles bewegte sich. Sie kuschelten sich eng aneinander und
 beratschlagten, ob sie ihren Weg ins Ungewisse zu Fuß oder mit
 Hilfe eines öffentlichen Verkehrsmittels antreten sollten. Das
 Schicksal half ihnen bei dieser Entscheidung ein wenig, denn
 genau vor dem Haus, aus dem sie eben geflüchtet waren,
 befand sich eine Busstation. Nun stellte sich die Frage, mit
 welchem Hilfsmittel - und das musste in diesem Fall wohl ein
 menschliches Wesen sein - sie in den Bus gelangen könnten.
 Sie versteckten sich unter der Bank im Wartehäuschen und
warteten geduldig eine günstige Gelegenheit ab. Die kam auch
 bald in Gestalt eines kleinen Schulmädchens, das eine schwere
 Schultasche am Rücken trug und sich niedersetzte.

-2-

Flugs kletterten die bunten Klammern, fest aneinandergekettet,
 auf die Bank, und die oberste schwang sich von dort aus auf den
 Rüssel eines Plüschelefanten, der von der Schultasche
 baumelte. Sie hätte sich auch an der kleinen grauen Maus oder
 dem giftgrünen Frosch festhalten können, doch der Elefant
 schien das sicherste Transportmittel. Vor allem in den Kurven,
 die der Busfahrer recht schwungvoll nahm, bot der Rüssel des
 Elefanten den nötigen sicheren Halt, und bereits nach kurzer
 Fahrt begannen die Klammern ihre abenteuerliche Reise zu
 genießen und schwangen sich fröhlich von Kurve zu Kurve. Sie
 waren sogar ein wenig traurig, als die Fahrt zu Ende war, doch
 auch gespannt, wo sie ihr Weg hinführen würde.
 Das kleine Mädchen ging nun in eine Siedlung, in der ein
 Häuschen mit Garten neben dem anderen stand. Alles war grün,
 und die Natur stand in voller Blüte. Noch ehe das Kind in einem
 der Gärten verschwand, befreite sich die oberste Büroklammer
 vom Rüssel des Elefanten, und alle purzelten zu Boden.
 Benommen von der turbulenten Autobusfahrt und dem Sturz,
 lagen sie erst einmal eine Weile auf einem weichen
 Rasenpolster, um wieder Kraft zu sammeln. Am Weg in den
 angrenzenden Garten wischten sie mit Hilfe der Grashalme den
 restlichen Staub von ihren bunten Körpern und stolperten über
 Stock und Stein, bis sie zur Terrasse des Hauses kamen, wo sie
 sich an einem Schattenplätzchen ein wenig Ruhe gönnten.
Ob sich wohl in dieser Umgebung eine sinnvolle Betätigung
 finden ließ? Es sollte gar nicht lange dauern bis es so weit war.
 In einem Liegestuhl lag ein Mann, der ein Manuskript in der
 Hand hielt, das er Seite für Seite korrigierte und die losen Seiten
 auf den Tisch legte. Ein leises Grollen kündigte ein
 herannahendes Gewitter an, und vermutlich müde von der
 drückenden Schwüle dieses Sommertages, war der Mann mit
 den restlichen Seiten des Manuskriptes auf seinen Knien
 eingeschlafen. Plötzlich brauste ein Sturm auf, der dem Mann
 die Papiere entriss, den anderen Teil vom Tisch fegte und alle
 Blätter auf der Terrasse verteilte.
Nun sahen die zehn bunten Büroklammern ihre Stunde
 gekommen. Sie tauchten blitzartig aus dem Gebüsch hervor,
 liefen wie wild durcheinander, und jede versuchte so viele Seiten
 wie nur möglich zu erhaschen und festzuhalten. Nach kurzer Zeit
 lag kein einziges Blatt Papier mehr frei herum, und jede der zehn
 Klammern war stolz, noch die Kraft zu haben, das wertvolle
 Papier festhalten zu können. Ihr Dasein hatte also wieder einen
 Sinn. Und als der Mann durch den ersten Blitz und die ersten
 Tropfen des Gewitters aus seinem Schlaf gerissen wurde, traute
 er seinen Augen nicht, als er sein kostbares Manuskript
 wohlbehalten und vollständig, gesichert von den zehn bunten
 Büroklammern, auf der Terrasse liegen sah.