Birne und Apfel

Birne und Apfel

Der letzte Tag der Obsternte ging dem Ende zu. Die Erntehelfer beeilten sich, die noch verbliebenen Früchte von den Bäumen zu pflücken und auf ihren Traktor zu verladen. Denn ein Gewitter braute sich über dem Hügel mit den Obstbäumen zusammen. Als die ersten schweren Tropfen fielen, war das Fahrzeug bereits im Dorf angekommen.
Ein Blitz erhellte die Landschaft, und in seinem Schein war am untersten Ast eines Birnbaumes eine vergessene Frucht zu erspähen. Die große, grüne Birne kam sich sehr verloren vor und hatte ein wenig Angst vor dem Blitzen und dem Donnern. Sie rückte nahe an den Stamm und suchte Schutz unter den Blättern über ihr. Bald aber war der Spuk vorbei, und die Birne beschloss, sich auf den Weg zu machen. Sie wusste zwar noch nicht, wohin, doch sie wollte auf keinen Fall auf dem Bauernmarkt zur Schau gestellt und von allen Händen angetapst werden.
Also befreite sie sich mit einem kräftigen Ruck aus ihrer Hängelage und purzelte vom Baum. Der Regen hatte für eine weiche Landung am Boden gesorgt, und die nassen Grashalme kühlten ihre vor Aufregung glühenden Wangen. Nach einer Schecksekunde machte sie sich auf den Weg in Richtung Dorf, als sie ein leises Flehen hörte „Nimm mich mit, nimm mich mit". Es dämmerte schon, und die Birne konnte nicht gleich erkennen, woher das Geräusch kam. Nach ein paar Schritten wurde das Flehen lauter „Nimm mich mit, bitte nimm mich mit". Und siehe da, in einem Apfelbaum über ihr hing ein wunderschöner, roter Apfel. Auch er war in der Hektik übersehen worden und wollte nicht am Baum verfaulen. „Komm herunter", sagte die Birne. „Aber, wie", fragte der Apfel. „Du musst dich nur ganz fest nach der einen und dann nach der anderen Seite drehen. Und das ein paar Mal". Gesagt, getan, Der Apfel plumpste zu Boden.
Als er sich von dem Schock erholt hatte, beschlossen die beiden, nun ihren Weg gemeinsam zu gehen. Erst aber mussten sie einen Unterschlupf für die Nacht finden. Das nahe gelegene Feld war dafür ideal geeignet. Eng aneinander geschmiegt verbrachten sie die Nacht am Feldrand, als sich plötzlich in der Morgendämmerung ein Reh näherte, das auf Nahrungssuche war. Hoffentlich riecht es uns nicht, flüsterten sie einander zu. Doch zu spät, das Reh stand schon vor ihnen und hatte den Apfel bereits in sein Maul genommen. Gerade, als es zubeißen wollte, war im nahen Wald ein Schuss zu hören. Erschrocken ließ das Reh den völlig verstörten Apfel fallen und lief eilig davon. Ganz blass von dem Schock, dauerte es eine Weile, bis der Apfel wieder seine schöne, rote Farbe zurückbekam. Das ist noch einmal gut gegangen, atmeten beide auf und begaben sich auf den Weg.

-2-

Sie mussten einige Wiesen überqueren, als sie plötzlich vor einem Feldweg standen. In dem Moment, als sie auf die andere Seite des Weges wechseln wollten, hörten sie ein dröhnendes Geräusch. Ein Lastwagen rollte heran und drohte Birne und Apfel dem Erdboden gleich zu machen. Da sie bereits mitten auf dem Weg waren, konnten sie sich nur durch einen kühnen Sprung in das Rinnsal retten. Dort blieben sie erst einmal ein Weilchen liegen, um zu verschnaufen. Dann befreiten sie sich schließlich mit letzter Kraft aus ihrer unbequemen Lage, waren aber schon so erschöpft, dass sie gar nicht mehr recht mitbekamen, wohin sie gingen. Da jedoch alles grün um sie herum war, hofften sie am richtigen Weg ins Dorf zu sein.
Gerade, als sie sich ein wenig entspannen wollten, kamen zwei Kinder gelaufen und nahmen sie in ihre kleinen Hände. Jetzt war ihnen klar, wo sie gelandet waren – im Garten einer Schule. Nun würden sie wohl verspeist werden, was sonst wollten die Kinder mit ihnen, dachten die beiden entsetzt. Doch das Schicksal meinte es noch einmal gut mit ihnen.
Als die Kinder in der Klasse ankamen, legten sie stolz die Birne und den Apfel auf den Tisch der Lehrerin, die die Kinder ausgeschickt hatte, etwas Passendes für den Unterricht zu finden. Es war nämlich Malstunde, und die beiden Früchte sollten als Vorlage dienen, um von den Kindern gezeichnet und gemalt zu werden.
Ganz stolz und gar nicht mehr müde strahlten die beiden Früchte in ihren schönsten Farben und voller Freude.