Die Nuss Olga

Die Nuss Olga

Es war ein lauer Frühsommerabend, und die Dämmerung verwandelte langsam den Himmel über dem kleinen Ort in schönes Abendrot. Der Abend war ruhig, doch durch den Blätterwald einer Allee von Nussbäumen ging ein besorgtes Raunen und Wispern. Angst machte sich unter den grünen Früchten der Bäume breit.
Denn es war wieder einmal die Zeit gekommen, da sich die Menschen auf den Weg machten, um alle Nüsse, die sie nur erreichen konnten, von den Bäumen zu brechen. Die Zeit, in der viele grüne Nüsse, klein zerschnitten, in großen Flaschen mit Alkohol, Zucker und Kräutern landeten. Nussschnaps wurde aus ihnen gemacht, der den Menschen bei Magenbeschwerden helfen sollte.
Doch Olga, die weit oben in der Baumkrone hing, wollte nicht zulassen, von Menschenhand gepflückt zu werden. Sie streckte und räkelte sich am nächsten Morgen als die Dorfbewohner kamen und versteckte sich hinter einem ganz besonders großen Blatt, um erst gar nicht gesehen zu werden. Diese Anstrengung musste sie mehrere Tage hintereinander wiederholen, bis die Menschen endlich die Bäume in Ruhe ließen.
Nun war es still geworden um die Nussbäume, sie hatten nichts mehr zu befürchten, und die noch verbliebenen Früchte konnten in aller Ruhe einen Sommer lang heranreifen. Sie waren für Mensch und Tier vorübergehend uninteressant geworden.
Das änderte sich blitzartig, als der Herbst mit seinen Stürmen gekommen war und die jetzt reifen Nüsse von den Bäumen fegte. Und wieder war es der Mensch, der die größte Bedrohung der Nüsse darstellte, der sich bereits zum zweiten Mal im Jahr auf die Suche nach den Früchten des Nussbaumes machte. Sie lagen nun da, die meisten von Ihnen von ihrer schützenden, grünen Hülle befreit und wurden eingesammelt. Die Gefahr, einfach so gegessen oder zu Nusskipferln verarbeitet zu werden, traf alle, die ungeschützt herumlagen.
Olga hatte das vorausgesehen und sich bereits im Fallen ein Plätzchen unter einer Wurzel ausgesucht, um nicht so schnell erkannt zu werden. Denn die Wurzel hatte die gleiche Farbe wie Olga, nachdem sie ihren grünen Mantel abgestreift hatte und gab ihr dadurch Schutz. Dort machte sie sich’s erst einmal bequem und versteckte sich so gut, dass sie kein Mensch beim Nüsseklauben finden konnte.

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Gerettet, dachte sie. Doch plötzlich zupfte eine Krähe Olga hinter der Wurzel hervor. Das ist mein Ende, fürchtete sie, doch so sehr sich die Krähe auch bemühte, die Nuss zu knacken, es gelang ihr nicht. Olga musste sogar mehrere Stürze aus großer Höhe über sich ergehen lassen, denn die Krähe hoffte, dass sich die Nuss nach dem Aufprall öffnen würde. Aber Olga war nicht nur eine schöne, sondern auch eine besonders harte Nuss. Als die Krähe endlich erfolglos von ihr abließ, kam Olga mitten auf der Straße zu liegen. Sie konnte sich nicht mehr aus eigener Kraft zur Seite rollen, denn sie war bereits erschöpft von den vielen Anstrengungen. Jetzt von einem Auto überrollt zu werden, wird dann wohl mein Ende sein, sagte sie leise vor sich hin.
Kaum ein wenig zur Ruhe gekommen, stand eine weitere Gefahr vor ihr in Gestalt eines Eichhörnchens. Es packte Olga und schleppte sie an den Straßenrand. Die spitzen Zähne des kleinen Tierchens bei dem Versuch, die Nuss zu knacken, taten Olga zwar ein wenig weh, doch sie konnten ihr nichts anhaben. Ihre Schale war so hart, dass auch das Eichhörnchen die Nuss nach kurzer Zeit wieder liegen ließ.
Gerettet, hoffte Olga endgültig, als sie so dalag und es sich gerade zwischen Steinen und Gras bequem machen wollte, als eine Menschenhand nach ihr griff. Nun ist es für immer aus, denn gegen den Menschen habe ich gar keine Chance, seufzte sie kraftlos. Sie landete in einem Korb, in dem bereits Blätter, Wurzeln und andere Früchte des Waldes lagen. Auch ein paar Artgenossen konnte sie im Dunkeln erkennen.
Ein Weg ins Ungewisse begann. War Olga für einen Strudel oder gar für Weihnachtsbäckerei vorgesehen? Viele Gedanken quälten sie, bis sie endlich zu dem Haus kamen, in dem die Menschenhand alles, was sich in dem Korb befand, fein säuberlich in eine schöne, große Schale gab. Olga lag ganz oben. Noch immer wusste sie nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Sie zeigte sich jedoch von ihrer schönsten Seite und rückte ganz in den Mittelpunkt. Erst als die Schale auf ein Fensterbrett gestellt wurde, sodass alle Menschen, die vorbeigingen, sie sehen konnten, erkannte Olga den Sinn ihres Daseins. Sie war mit all den anderen Früchten des Herbstes als Dekoration in der Auslage eines Feinkostladens gelandet.
Und das machte sie stolz und glücklich.