Zwei Blätter

Zwei Blätter

Der Herbststurm hatte bereits fast alle Blätter von den Bäumen gefegt. Nur auf einem großen Laubbaum, der auf einer Anhöhe nahe dem Dorf stand, waren noch ein paar wenige Blätter zu sehen.
Zwei von ihnen, ein braunes und ein gelbes, klammerten sich mit letzter Kraft an ihren Ast. Denn sie wollten im Dorf noch etwas erleben, ehe sie zu Humus für neue Blätter würden.
Den Kirchturm der kleinen Menschensiedlung vor Augen, schwangen sie sich mit Hilfe eines kräftigen Luftzuges vom Baum. Sie hofften, die Orientierung nicht zu verlieren, konnte man doch dem Wind nicht ganz trauen, in welche Richtung er sie verblasen würde. Die erste Strecke des Weges verlief recht holprig, die Grashalme und die Herbstblumen standen aufrecht und behinderten ihren Weg.
Ein weitaus größeres Hindernis bot sich jedoch den schönen Blättern, als sie sich dem Feldweg näherten. Ein dröhnendes, immer stärker werdendes Geräusch war zu vernehmen, und die riesigen, heranrollenden Räder eines Traktors drohten die Blätter dem Erdboden gleich zu machen. Und wieder verdankten sie es dem Wind, dass sie nur knapp dieser Katastrophe entgingen. Denn noch ehe der Traktor vorüber war, konnten sie sich auf die andere Seite des Weges retten.
Die Gefahr war jedoch noch nicht gebannt. In dem Waldstück, das sie jetzt zu durchqueren hatten, lauerten noch mehr Gefahren als auf der Wiese. Wurzeln, herabgefallene Äste, zwischendurch eine Schwammerlfamilie und die schlechte Sicht im Wald, ließen die beiden Blätter fast verzweifeln. Plötzlich hörten sie ein Rascheln im Waldboden. Ein großer, ausgewachsener Igel kam hervor und schien in dieselbe Richtung zu wollen. Es war zwar nicht das ideale Transportmittel, doch in der Not musste man ein paar kleine Verletzungen in Kauf nehmen. Sie klammerten sich also ganz vorsichtig an die größten Stacheln des Igels und hofften, dass er sie sicher aus dem Wald herausführen würde. Noch ehe der Waldweg zu Ende war, den sie auf dem Rücken des Igels gefahrlos zurücklegten, streifte der Igel das gelbe und das braune Blatt ab. Und so mussten sie das letzte Stück auf glitschigen Wurzeln hinunterrutschen, bis sie den Waldesrand erreichten.

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Ein wenig nass und zerknittert ruhten sie sich in der wärmenden Herbstsonne zum Trocknen aus. Sie warteten einen günstigen Windstoß ab und konnten mit seiner Kraft den Rest des Weges zurücklegen.
Ein letzter, hilfreicher Windhauch blies sie mitten auf den Dorfplatz vor die Kirche .Sie kamen vor einer Frau zu liegen, die mit dem Binden einer Erntedankkrone beschäftigt war. Alle Getreidesorten, rote und grüne Trauben, auch Obst und Gemüse hatte die Frau bereits in die Krone eingewoben. Und plötzlich erblickte sie die beiden Blätter. Braun und gelb, genau das waren die Farben, die ihr noch in ihrem Kunstwerk gefehlt hatten. Und so erhielten die zwei Blätter einen wunderschönen Platz inmitten der Schätze unserer Natur und konnten für kurze Zeit vergessen, wie vergänglich sie doch waren.