Hugo


Hugo

Mein Name ist Hugo, und ich bin ein Spazierstock, groß, schlank und aus edlem Holz gefertigt. Ich lebe mit meinem Besitzer in einer schönen, großen Wohnung in der Innenstadt. Seit Jahren machen wir beide Tag für Tag das gleiche – außer Sonntag. Etwa um zehn Uhr am Vormittag holt mich mein Herr aus der Ecke des Vorzimmers, die ich mit einem sehr eleganten Regenschirm teile, wir schreiten schwungvoll die beiden Stockwerke hinunter und begeben uns auf die Straße. Die erste Station unseres täglichen Spazierganges ist der Zeitungskiosk am Ende der Straße. Für ein Weilchen lehne ich bequem an dem prall gefüllten Zeitungsständer, während mein Besitzer die Schlagzeilen der Tageszeitung liest. Dann geht es weiter in den nahe gelegenen Park, in dem sich in der schönen Jahreszeit einmal pro Woche eine Gruppe älterer Herren zum Schachspielen trifft. Doch mittlerweile ist es Herbst geworden, Nebel hängt über der Stadt, und die großen, bunten Schachfiguren, die sonst am Boden zu einem Spiel zusammengesetzt werden, liegen, mit einer Plane bedeckt, am Rande der Spielfläche. Nur wenige Menschen sind heute unterwegs, da aber mein alter Herr sehr gesundheitsbewußt ist, ziehen wir unermüdlich unsere Runden durch den Park. Doch einmal bleiben wir kurz stehen, einer der Schachspieler ist mit seinem Hund unterwegs und beklagt das nebelige Wetter. Ich mag es übrigens gar nicht, diesen beiden zu begegnen, denn ich habe jedes Mal Mühe, dem Hund auszuweichen, nur zu gerne würde er mich mit einem Baum verwechseln.
Ehe wir zu dem Feinkostladen kommen, in dem der tägliche Bedarf eingekauft wird, machen wir heute Halt in der Kirche. Ein Kerzlein wird entzündet und der vor zehn Jahren verstorbenen Gattin gedacht.
Großzügig erweist sich heute mein Besitzer, als wir an dem Bettler vorbeigehen, der auf den Stufen der Kirche sitzt und ihm seine Hand entgegenstreckt; er legt einen Geldschein hinein. Ein schwaches Lächeln als Dank kommt aus den Augen des fast blinden Mannes, der sich danach nur mühsam von der kalten Treppe erhebt und langsam im dichten Nebel untertaucht.
Mein Herr und ich überqueren nun vorsichtig die Straße, um in den gegenüberliegenden Feinkostladen zu gelangen. Ich werde an das Regal mit den Weinflaschen gelehnt, kann für ein Weilchen verschnaufen, während er die Leckerbissen für den heutigen Tag kauft. Und dann treten wir den Heimweg an. Der Nebel wird dichter, und der Druck der Hand meines Besitzers auf meinen Kopf wird stärker, denn mein Herr ist müde und bei einem Wetter wie heute unsicher.


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Und wir erreichen – wie immer gegen zwölf Uhr – die Wohnung. Ich werde schwungvoll in die Ecke geschleudert und habe es jedes Mal nur dem Schirm zu verdanken, an den ich mich anlehnen kann, dass ich nicht umfalle. Aber, auch wenn mein Dasein abwechslungsreicher ist als das des Schirmes, der nur alle paar Wochen zum Einsatz kommt, eben dann, wenn es regnet, bin ich mit meiner Aufgabe nicht zufrieden. Ich habe einen Plan entwickelt, der morgen schon gelingen soll und meinen derzeitigen Besitzer hoffentlich nicht allzu sehr aus der Fassung bringen wird.
Der neue Tag ist angebrochen, der Nebel hat sich etwas gelichtet, mein Herr und ich verlassen wie immer um zehn Uhr das Haus. Erst die Zeitung, dann der Rundgang im Park, vorbei an der Kirche, wo auch heute wieder der alte Mann auf den Stufen sitzt und bettelt; und schließlich der Feinkostladen gegenüber. Heute lehne ich zum Glück zwischen den Obst-und Gemüsekisten und kann mich so gut verstecken, dass mich mein alter Herr auch nach langwieriger Suche nicht findet und unverrichteter
Dinge alleine heimgehen muss. Sein Ärger war übrigens nicht zu überhören, als er das Geschäft verließ. Doch nun kommt endlich mein Nachfolger zum Zug, den er vor kurzem geschenkt bekam. Gut versteckt zwischen Obst und Gemüse verweile ich bis knapp vor der Mittagspause und schlängle mich, ehe der Laden schließt, aus der Tür. Ich lehne mich ein wenig an die Hausmauer, denn ohne die stützende Hand auf meinem Kopf bin ich sehr wackelig unterwegs. Ja, nicht nur der Mensch braucht den Stock, um sich zu stützen, auch der Stock kommt ohne die Stütze des Menschen kaum vom Fleck. Also warte ich einen günstigen Moment ab, nehme Anlauf und überquere mit einem Satz die Straße. Bei einem kurzen Halt an einem Laternenmast hole ich mir Kraft für die letzte, kurze Strecke bis zu meinem Ziel. Zum Glück ist es noch da, mein Ziel: der Bettler vor der Kirche. Und gerade als sich der alte Mann erheben will, schiebe ich meinen Kopf unter seine zitternde, hagere Hand und flüstere ihm zu: ich bin Hugo, der Spazierstock, und ab heute dein Begleiter, der immer an deiner Seite bleiben wird.