Der Koffer

So viel von der Welt hat wohl niemand gesehn,
die meiste Zeit lag ich, ich fuhr, mußte stehn.
Ich bin gut erhalten, gepflegt, fast wie neu
und war meiner vornehmen Dame stets treu.
Ich schleppte für sie feine Schuh, edle Seide –
und nicht zu vergessen das teure Geschmeide.
Doch hat nicht auch jemand wie ich einen ‚Sinn‘?
So plante ich nachts heimlich den Neubeginn.
Eine gütige Fee verlieh mir die Macht
des Unsichtbarmachens, ja, und ganz sacht
rollte ich unerkannt nun von Stand zu Stand
auf dem Markt nebenan und stahl Gewand,
Hygieneartikel, eine Decke und Schuh,
Brot, Butter, frisches Obst und Gemüse dazu.
Randvoll tauchte ich in die Dunkelheit ein,
um gleich bei meiner neuen ‚Herrin‘ zu sein.
Vielleicht war auch sie mal vermögend und schön,
doch heut ist von alledem nichts mehr zu sehn.
Sie lebt auf der Straße von der Hand in den Mund,
und niemand bleibt stehn und fragt sie nach dem Grund.
Ich werd, wenn sie’s will, sie nie wieder verlassen –
und immer auf’s Neue am Markt ausfassen.


© irmgard czerny